Kolner Stadt-Anzeiger, June 2010

“Nach 13 Jahren als Chefdirigent des WDR-Sinfonieorchesters verlässt Semyon Bychkov Köln. Es ist ein Abschied voller Stolz. Ein Gespräch über Jahre mit vielen Höhepunkten, neue Aufgaben und die Uniformität der Musik.

Herr Bychkov, 13 Jahre waren Sie in Köln. Diese Ära geht jetzt zu Ende, morgen und am Samstag geben Sie in der Philharmonie Ihre letzten Konzerte mit dem WDR-Sinfonieorchester. Ihre Bilanz?

Semyon Bychkov: ‘Die ist fantastisch. Es war eine der glücklichsten Perioden meines Lebens, künstlerisch wie menschlich. Das betrifft das weltoffene Wesen der Musiker wie des Kölner Publikums, ihre Lust, neue Erfahrungen zu machen. Mit dem Orchester hat einfach die Chemie gestimmt – warum, das ist sehr schwer zu beschreiben.’

Was waren für Sie die Tops – und was die Flops?

Bychkov: ‘Über Flops kann ich gar nicht sprechen, weil ich mich an sie, so es sie gegeben hat, nicht erinnere. Selbstverständlich war nicht jedes Konzert unglaublich. Aber Flops? War „Elektra“ ein Flop, „Lohengrin“, „Tristan“, die Schostakowitsch-Aufnahmen? Nach meinem Verständnis waren das Highlights. Das Wichtigste für mich in diesen 14 Jahren war es, dem Publikum Qualität anzubieten. Und da hat es keinen einzigen Augenblick gegeben, da wir Zeit verplempert haben.’

Werden sie denn nach Köln zurückkehren?

Bychkov: ‘Ja – und mit großer Freude. Ich komme bereits in der kommenden Spielzeit mit den Wiener Philharmonikern zurück. Beim WDR-Orchester, dem ich in großer Loyalität verpflichtet bin, mache ich allerdings eine Pause. Die Musiker müssen Gelegenheit haben, sich an meinen Nachfolger zu gewöhnen.’

Haben Sie einen Anschlussjob?

Bychkov: ‘Nein, und darüber bin ich sehr glücklich. Es ist das erste Mal seit dem Beginn meiner Karriere, dass ich völlig frei bin. Und wenn ich mir meinen Kalender für die nächste Saison ansehe mit Produktionen und Tourneen in England, Spanien, Amerika und China – da ist nichts bei, worauf ich mich nicht wahnsinnig freue.’

Sie sind in Russland in eine jüdische Familie hineingeboren, haben die US-Staatsbürgerschaft, haben Ihren Wohnsitz in Frankreich, arbeiten unter anderem in Deutschland. Wie kommen Sie mit dieser multiplen Identität klar?

Bychkov: ‘Das ist jedenfalls keine oberflächliche Akkumulation. Russland, Amerika, Frankreich, auch Italien – ich bin wirklich in die Kultur des jeweiligen Landes eingetaucht, auch in das tägliche Leben. Für meine Tätigkeit als Musiker ist das enorm wichtig: Ich kann die Musik eines Landes authentisch und glaubwürdig nur dann interpretieren, wenn ich mit dessen Lebenswelt vertraut bin. Man kann Brahms nicht als Tourist dirigieren, der gerade mal eine Woche in Deutschland gewesen ist. Furtwängler etwa hat Berlioz nicht „französisch“, wie es eigentlich sein sollte, sondern „deutsch“ spielen lassen.’

Diese Zeiten sind vorbei.

Bychkov: ‘Ja, die offenen Grenzen heute sind für Gegenwartsmusiker eigentlich ein immenser Vorteil. Es ist jedenfalls falsch, wenn Musik unterschiedlicher Herkunft gleich klingt. Jeder Ausdruck hat spezifisch zu sein, nicht uniform.’

Sie sprachen eben über die offenen Grenzen. Befördert denn nicht gerade die Globalisierung die weltweite Nivellierung des Klangs – auch der Orchester?

Bychkov: ‘Da müssen wir differenzieren: Sicher hat das WDR-Orchester einen anderen Grundklang als das Cleveland Orchestra. Aber dieser Unterschied verhindert noch nicht, dass sich eine Brahms-Sinfonie in 20 Aufnahmen doch ziemlich gleich anhört. Überall dasselbe Ritenuto, dasselbe Accelerando. Es geschieht selten, dass man mal einer neuen Sichtweise begegnet. Es ist der überwältigende Druck des Vorhandenen, der ein unverstelltes Herangehen blockiert. Das ist ein Manko unserer Zeit.’

In der Alten Musik ist das anders.

Undoubtedly the most contrary figure in the opera is the ambitious, scheming and vengeful Ortrud. Seeming to be cut from the same poisonous cloth as Shakespeare’s Lady Macbeth, the role offers a particularly knotty set of challenges for singer and conductor.

Bychkov: ‘In der Tat. Hören Sie sich Harnoncourt, Gardiner, Goebel an, und Sie stellen fest, dass die aus denselben Noten völlig unterschiedliche Schlüsse ziehen. Ich finde das sehr aufregend. Für mich war es übrigens eine regelrechte Offenbarung, zu erleben, wie Gardiner Schumann interpretiert. Die Nähe zum Tanz etwa, die er herausstellt. Solche Aufnahmen zeigen uns, wie problematisch die etablierte Sicht auf dieses Repertoire ist.’

Ein überraschendes Bekenntnis von einem Vertreter der romantischen Tradition.

Bychkov: ‘Ich hatte da in den 90er Jahren ein Schlüsselerlebnis: Ich sollte „Idomeneo“ dirigieren und stieß auf eine Harnoncourt-Produktion. Das war eines der größten Erlebnisse, die ich je mit Musik hatte. Es war mitreißend, dramatisch, mutig, absolut überzeugend. Da erkannte ich: Wir können nicht alle Musik über einen Leisten schlagen. Ich habe es dann unternommen – das war mühsam -, bei Traditionsorchestern neue Spielweisen für das ältere Repertoire zu entwickeln.’

Die Originalklang-Ensembles hatten die Traditionsorchester ja geradezu enteignet – Bach, Mozart und Beethoven trauten die sich gar nicht mehr zu spielen.

Bychkov: ‘Ja, und das ist ganz falsch. Es fehlt dann der Unterbau, etwas absolut Unverzichtbares. Ich persönlich liebe Bach und Mozart und habe überhaupt keine Lust, diese Musik Spezialisten zu überlassen. Andererseits verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit, wenn wir nicht von den Alte-Musik-Vertretern lernen. Ich habe übrigens in Köln mit einem sich über fünf Jahre erstreckenden Beethoven-Zyklus begonnen, auch die h-Moll-Messe dirigiert und zusammen mit dem verstorbenen Orchestermanager Hans-Martin Höpner die Reihe „Klassik heute“ entwickelt, die dem Missstand abhelfen sollte.’

Wie denken sie über die vielbeschworene Krise der Klassik?

Bychkov: ‘Die klassische Musik hat es heute angesichts des konkurrierenden Freizeit- und auch Musikangebots schwerer als früher. Aber die mittäglichen Lunch-Konzerte in der Philharmonie sind überfüllt. Nichts da von schwindendem Interesse. Dennoch sollte man das Problem nicht leugnen. Für die Jüngeren ist heute die Visualisierung wichtig, darauf muss die Klassik-Branche reagieren. Wenn die Musiker mit ausdruckslosen Gesichtern dasitzen und ihren Beethoven abliefern, dann törnt das ab. Sie müssten mit ihrer Begeisterung viel mehr aus sich herausgehen – das reißt gerade ein jugendliches Publikum mit.’